Hustlest du noch oder lebst du schon?
Arbeiten wir eigentlich, um zu leben – oder leben wir, um zu arbeiten?
Das erste Mal habe ich mir diese Frage in der 11. Klasse während meines High-School-Jahres in den USA gestellt. Als behütetes Dorfkind hatte ich dort zum ersten Mal das Gefühl, dass die Menschen in Sioux City – mit seinen Weiten und Maisfeldern – einfach nur: hustlen, hustlen, hustlen.
Aber konnten sie die Früchte ihrer Arbeit wirklich genießen?
Viele lebten trotz dreier Jobs in prekären Verhältnissen. Trotz des allgegenwärtigen „Smile“ und der „Positive Attitude“ waren sie sorgengeplagt – und unsicher, ob sie ihren Kindern eine gute Ausbildung ermöglichen könnten.
Wie stolz ich damals auf Deutschland war! Studium für alle – und in meiner kleinen, ländlichen Bubble erlebte ich die Menschen irgendwie verbundener mit dem Leben und dem, was zählt: Freundschaften, Natur, Freude (to name a few).
Ich fragte mich: Hustlen hier wirklich alle, um überhaupt über die Runden zu kommen? Drei schlecht bezahlte Jobs, Studienkredite, zwei Kinder mit College-Wunsch – klingt plausibel.
Aber warum ändert das niemand?
Vielleicht hustlen sie, weil sie es nicht anders kennen. Weil sie es gar nicht (mehr) hinterfragen?
Und doch zeigte sich auch in Deutschland der 90er und 2000er ein ähnlicher Trend: Fleiß und Pflichtbewusstsein galten als höchste Tugenden. Ehrgeiz war das Wort der Stunde. Für ein gutes Abi wurde einiges versprochen – denn das Kind sollte „gut sein“ (was auch immer das heißt), um es „mal weit zu bringen“.
Zurückgelassen hat mich das mit einem entfremdeten inneren Kind, das sich lange Zeit viel zu sehr an äußeren Maßstäben orientiert hat – und dabei vergessen hat, was es mit 17 schon wusste:
Ich will leben. Und alle meine Tätigkeiten sollen diesem Leben dienen – nicht andersherum.
Ich weiß, diese Frage zu stellen ist ein Privileg. Und dennoch stelle ich sie.
Denn: Nur weil etwas ein Privileg ist, heißt das nicht, dass es nicht sinnvoll ist, Dinge zu hinterfragen, die uns nicht guttun – und Alternativen zu suchen.
Ich habe keine Lust mehr auf Hustle Culture.
Nicht, weil ich nicht motiviert bin. Ganz im Gegenteil!
Ich liebe es, Ergebnisse meines Schaffens zu sehen. Ich liebe es, im Flow zu sein, mich in einer sinnvollen oder kreativen Aufgabe zu verlieren.
Aber: Ich weiß, dass das Stresslevel, das mit unserer Hustle-Kultur einhergeht, niemandem guttut.
Ganz im Gegenteil – es schadet.
Genauso wie die Kurzsichtigkeit, die entsteht, wenn Menschen unter Druck schlechte Entscheidungen treffen.
Lasst uns runterfahren.
Dinge weglassen.
Einzeln und kollektiv entschleunigen.
Uns wieder Zeit nehmen für das Wesentliche – und für die essenzielle Frage:
Ist das hier gerade lebensdienlich? Oder kann es weg?
Wir leben in einer vernetzten Welt voller Krisen – es ist so leicht, ins Hustlen zu geraten.
Genau deshalb frage ich mich:
Mit welcher Energie bin ich hier gerade unterwegs?
Bin ich noch grundentspannt und geerdet?
Bin ich präsent genug, um gute Entscheidungen zu treffen?
Oder renne ich schon – und das Außen verschwimmt?
Ich will mich fragen: Wofür mache ich das hier eigentlich gerade?
Zahlt es auf das ein, was mir wirklich wichtig ist?
Oder ist es nur ein weiterer Ausdruck unserer Hustle-Kultur –
deren Antreiber, Glaubenssätze und Muster wir alle in uns tragen?